Geschäftsführerhaftung nach § 15b InsO oder § 64 GmbHG: Zahlungsverbote nach Eintritt der Insolvenzreife in Altfällen

von Florian Dälken, RA und Betriebswirt, FA für Insolvenzrecht, FA für Handels- und Gesellschaftsrecht, Zertifizierter Restrukturierungs- und Sanierungsexperte und Insolvenzverwalter

1.

Zum 01.01.2021 wurde die Regelung des § 64 GmbHG gestrichen und durch § 15b InsO ersetzt (vgl. Art. 16 bzw. Art. 5 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) vom 22.12.2020, BGBl I, 3256). In § 15b InsO befinden sich seitdem die zuvor in verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Normtexten verteilten Regelungen zu Zahlungsverboten bei haftungsbeschränkten Rechtsträgern im Zustand der Insolvenzreife. Während Einigkeit darüber besteht, dass jedenfalls für die nach Eintritt der Insolvenzreife vorgenommenen Zahlungen, die ab dem 01.01.2021 stattfinden, der neue § 15b InsO einschlägig ist, war unter Experten von Anfang an umstritten, wie eigentlich mit den „Altfällen“ zu verfahren ist, also mit solchen „verbotenen Zahlungen“, die bereits im Jahr 2020 oder früher vorgenommen worden sind. Noch komplizierter wird das Thema dadurch, dass mache Stimmen nicht entscheidend auf den Zeitpunkt der jeweils zu beurteilenden Zahlung, sondern auf den Zeitpunkt des Zugangs des Insolvenzantrages beim Insolvenzgericht abstellen wollen. Auf diese Weise soll eine einheitliche rechtliche Behandlung aller verbotenen Zahlungen einer konkreten haftungsbeschränkten Gesellschaft in einem späteren Insolvenzverfahren erreicht werden; sie unterfallen nach diesem Konzept dann unabhängig vom Zeitpunkt der Vornahme insgesamt entweder § 64 GmbHG oder § 15b InsO (vgl. zu diesem Abstellen auf das Datum des Insolvenzantrages nur Wolfer in: BeckOK InsO, 23. Edition Stand 15.04.2021, § 15b InsO, Rn. 42).

Dabei ist im Ausgangspunkt darauf hinzuweisen, dass es keinesfalls als unerheblich angesehen werden kann, welche der beiden Normen bei Altsachverhalten einschlägig ist. Denn der Gesetzgeber hat zum 01.01.2021 nicht lediglich eine Verschiebung der Zahlungsverbote in die InsO vorgenommen, sondern er hat auch die Normtexte geändert. Das zeigt sich schon, wenn man die Gesetzestexte nebeneinanderlegt: der alte § 64 GmbHG bestand aus vier Sätzen und auch die anderen in § 15b InsO aufgegangenen wichtigen Haftungsnormen für die AG, die GmbH & Co. KG sowie die Genossenschaft waren vergleichsweise knapp. Der neue § 15b InsO dagegen besteht aus acht Absätzen und enthält in § 15b Abs. 4 Satz 2 InsO die neue Begrenzung des Ersatzanspruches gegen das ersatzpflichtige Organ auf den tatsächlichen Schaden der Gläubigergemeinschaft. Der Sache nach muss das haftende Organ also im Rahmen des § 15b InsO (nur noch) Ersatz für den der Gläubigergemeinschaft entstehenden Quotenschaden leisten, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass der Gesetzeswortlaut die Beweislast für diesen (niedrigeren) Quotenschaden eindeutig dem Organ zuweist (vgl. Wolfer in: BeckOK InsO, 23. Edition Stand 15.04.2021, § 15b InsO, Rn. 32).

Insbesondere wegen dieser vom Gesetzgeber vorgenommenen inhaltlichen Änderungen ist es also für Insolvenzrechtler und Gesellschaftsrechtler wichtig, genau zu wissen, welche Regelungen in Altfällen einschlägig sind.

2.

a.

Seit Inkrafttreten des neuen § 15b InsO haben Experten darüber gestritten, welche Normen in Altfällen anwendbar sind.

aa. Meinung 1: Weitergeltung des § 64 GmbHG für Altfälle

Eine Auffassung stützt sich auf den Wortlaut des Art. 103m EGInsO. Hier ist geregelt, dass auf solche Insolvenzverfahren, die vor dem 01.01.2021 beantragt worden sind, die bis dahin geltenden Vorschriften weiter anzuwenden sind. Mit dieser Norm argumentierte beispielsweise das LG Aachen in einer Entscheidung vom 14.04.2021 und wendete § 64 GmbHG auf einen Altfall an (vgl. LG Aachen, Urt. v. 14.04.2021 – 11 O 241/17).

Zu dem gleichen Ergebnis ist auch der BGH gelangt, der ebenfalls § 64 GmbHG für einen Altsachverhalt heranzog, allerdings nicht durch Verweis auf Art. 103m EGInsO, sondern ohne Nennung einer konkreten Begründung (vgl. BGH, Urt. v. 20.04.2021 – II ZR 387/18, Rn. 18 ff.). In dieser Entscheidung hält der BGH den § 64 GmbHG in Altfällen offenbar selbstverständlich für anwendbar, ohne auf die abweichenden Auffassungen auch nur einzugehen. In diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist, dass der BGH eine ähnlich unklare Überleitungssituation an der Schnittstelle zwischen Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht im Jahr 2008 im Wesentlichen über die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Rechts gelöst hat. Nach diesen Grundsätzen soll die entfallene Norm trotz Fehlens einer entsprechenden Überleitungsregelung in Altfällen weitergelten (Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts untersteht ein Schuldverhältnis nach seinen Voraussetzungen, seinem Inhalt und seinen Wirkungen dem Recht, das zur Zeit seiner Entstehung galt; vgl. dazu BGH, Urt. v. 26.01.2009 – II ZR 260/07, Rn. 19; Hackenberg/Beck, ZInsO 2021, 413, 415). Es darf also vermutet werden, dass der BGH auch in seiner oben genannten Entscheidung zur weiteren Anwendung des § 64 GmbHG die Regeln des intertemporalen Rechts zumindest gedanklich berücksichtigt hat. Ausdrücklich für die Heranziehung der allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Rechts und damit für eine Fortgeltung des § 64 GmbHG spricht sich auch eine beachtliche Literaturstimme aus und zwar selbst für solche Fälle, in denen ein Insolvenzantrag erst nach dem 01.01.2021 gestellt wurde, die „verbotenen Zahlungen“ allerdings noch 2020 oder davor stattgefunden haben (vgl. nur Hentschel/Ruster, ZInsO 2021, 637, 642 f.). Ähnlich argumentieren auch diejenigen Stimmen in der Literatur, die die Neuregelung des § 15b InsO so verstehen, dass mangels Rückwirkungsanordnung die Aufhebung des § 64 GmbHG nur für die Zukunft gelten kann und einmal entstandene Ansprüche deshalb unberührt lassen muss (vgl. Kübler/Prütting/Bork, InsO, Kommentar zur Insolvenzordnung, Werkstand: 88 EL Mai 2021, § 15b, Rn. 3).

bb. Meinung 2: Heranziehung des § 15b InsO in Altfällen

Demgegenüber gibt es durchaus beachtliche Stimmen in der Literatur, die die Auffassung vertreten, nach Streichung des § 64 GmbHG könne die Norm überhaupt keine Anwendung mehr finden, eben weil sie ja gar nicht mehr im Gesetz steht. Aufgrund der Streichung könne auch eine analoge Anwendung nicht mehr in Betracht kommen (vgl. dazu nur Hackenberg/Beck, ZInsO 2021, 413, 414 ff.). Um Gesetzeslücken zu verhindern halten manche deshalb eine dem Strafrecht vergleichbare Lösung der Gesamtthematik für konsequent und argumentieren, die aus § 15b InsO ersichtlichen Erleichterungen für den Geschäftsführer seien Ausdruck eines generell gewandelten Unwerturteils, das dazu führe, dass § 15b InsO auch – wie im Strafrecht üblich – für Altsachverhalte angewendet werden müsse (vgl. nur Hackenberg/Beck, ZInsO 2021, 413, 416 f.). Ähnlich äußert sich eine weitere beachtliche Literaturstimme, die argumentiert, auch im Haftungsrecht für insolvenzrechtliche Zahlungsverbote sei das aus dem Strafrecht bekannte Meistbegünstigungsprinzip heranzuziehen und eine Rückwirkung des milderen neuen Rechts vorzunehmen. Diese Meinung will also ebenfalls den § 15b InsO rückwirkend auch für Altsachverhalte anwenden (vgl. nur Wolfer in: BeckOK InsO, 23. Edition Stand 15.04.2021, § 15b InsO, Rn. 42).

Für eine solche rückwirkende Geltung des § 15b InsO hat sich schließlich zunächst auch der Gesetzgeber selbst positioniert, wenn auch erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens und in einer Rede eines einzelnen Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Konkret sagte der Rechtspolitiker Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) zu der hier behandelten Thematik des anwendbaren Rechts in Altfällen in der 206. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28.01.2021:

In diesem Zusammenhang Kollege Brunner hat es schon angesprochen kam immer die Frage auf: Heißt das denn, dass die Verschiebung von § 64 GmbHG in § 15b der Insolvenzordnung auch die alten Sachverhalte betrifft, die im letzten Jahr galten? Natürlich betrifft sie diese Sachverhalte. Das Gleiche gilt bei § 313 BGB, wo wir, was den Wegfall der Geschäftsgrundlage angeht, auch eine Neuregelung zum 01.01.2021 vorgenommen haben. Denn das ist ja der Sinn der Sache: dass die Sachverhalte, wenn sie jetzt von den Gerichten beurteilt werden, nach der neuen Rechtslage beurteilt werden. Dafür sitzen wir hier zusammen. Das brauchen wir nicht klarzustellen, weil es selbstverständlich war.

(vgl. Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 206. Sitzung, Plenarprotokoll 19/206 S. 25975).

cc. Reaktion des Gesetzgebers

Die in § 64 GmbHG bzw. § 15b InsO geregelten Zahlungsverbote sind zentrale Vorschriften für die Massegenerierung in Insolvenzverfahren, für die Sanierung von Unternehmen und für das Handeln von vielen tausend GmbH-Geschäftsführern in Deutschland. Unsicherheiten in diesem Bereich, die ggf. sogar verfassungsrechtlicher Natur sein könnten, sind für alle Akteure schlicht unzumutbar. Das hat offenbar auch der Gesetzgeber erkannt. Denn er hat in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 24.06.2021 (zusammen mit der Reform des Personengesellschaftsrechts) das Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung geändert. Beschlossen wurde, dass dem Art. 103m EGInsO folgende Sätze 2 und 3 angefügt werden:

15b der Insolvenzordnung in der Fassung des Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetzes vom 22. Dezember 2020 (BGBl I S. 3256) ist erstmals auf Zahlungen anzuwenden, die nach dem 31. Dezember 2020 vorgenommen worden sind. Auf Zahlungen, die vor dem 01. Januar 2021 vorgenommen worden sind, sind die bis zum 31. Dezember 2020 geltenden gesetzlichen Vorschriften weiterhin anzuwenden.

(vgl. Beschlussempfehlung BT-Drs. 19/30942 S. 63).

In dem dazugehörigen Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 23.06.2021 wurde diese beabsichtigte Änderung begründet und darauf hingewiesen, dass durch die Zusammenführung der § 64 GmbHG, §§ 130a und 177a HGB, § 92 Abs. 2 AktG sowie § 99 GenG durch das SanInsFoG im neuen § 15b InsO mit Wirkung zum 01.01.2021 nicht etwa die Ersatzpflicht für vor dem 01.01.2021 geleistete Zahlungen weggefallen ist, sondern diese weiterhin besteht und sich nach den bisherigen Vorschriften richtet (vgl. Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages vom 23.06.2021, BT-Drs. 19/31105 S. 8). Dabei führte der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ausdrücklich aus, dass es sich bei der Änderung des Art. 103m EGInsO lediglich um eine „Klarstellung“ handeln soll.

Auch wenn die Rechtslage bisher offenbar alles andere als „klar“ gewesen ist, dürfte es dem Praktiker im Ergebnis egal sein, ob die Änderung des Art. 103m EGInsO tatsächlich lediglich deklaratorische oder ggf. doch konstitutive Wirkung hat. Viel bedeutsamer ist, dass der Gesetzgeber auf eine unsichere Situation reagiert hat und diese beendet hat. Da Rechtsakte mit einer deklaratorischen Wirkung an der bestehenden Rechtslage nichts ändern, sondern diese lediglich klarstellen, hat die Einordnung durch den Gesetzgeber als „Klarstellung“ aber durchaus weitergehende Bedeutung: es ergibt sich daraus, dass der neue Art. 103m EGInsO auch rückwirkend verstanden werden muss und eben nicht eine bestehende Rechtslage erst im Laufe des Jahres 2021 ändern möchte.

Zum weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ist noch darauf hinzuweisen, dass der Bundesrat ebenfalls keine Einwendungen erhoben hat und zu dem als Einspruchsgesetz zu behandelnden Gesetzentwurf keinen Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses gestellt hat (vgl. Beschluss des Bundesrates vom 25.06.2021, BR-Drs. 567/21). Deshalb darf zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags mit einer baldigen Verkündung durch Ausgabe im Bundesgesetzblatt gerechnet werden. Das Inkrafttreten ist für den Tag nach Verkündung vorgesehen.

b. 

Die rasche Reaktion auf den unsicheren Rechtsrahmen ist zu begrüßen. Weil es sich nach dem Willen des Gesetzgebers bei der Änderung des Art. 103m EGInsO um eine „Klarstellung“ handeln soll, wird der Praktiker sie wohl unabhängig vom Zeitpunkt des Inkrafttretens ab sofort zu beachten haben.

3. 

In einem zentralen insolvenzrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Bereich wurde Rechtsklarheit geschaffen: Alle „verbotenen Zahlungen“, die bis einschließlich 31.12.2020 vorgenommen worden sind, sind nach dem alten § 64 GmbHG zu beurteilen, während sich sämtliche Zahlungen ab dem 01.01.2021 nach den neuen Regelungen des § 15b InsO zu richten haben. Auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung kommt es dabei nicht an; die Trennlinie läuft klar über den Jahreswechsel. Dies hat selbstverständlich die Konsequenz, dass es einen „Rechtsbruch“ zum Jahreswechsel gibt: Bei solchen Insolvenzverfahren, die im Jahre 2021 beantragt und eröffnet worden sind, bei denen allerdings die „verbotenen Zahlungen“ teilweise aus 2020 (oder früher) und teilweise aus 2021 stammen, sind die beiden Haftungsnormen nebeneinander anzuwenden. Für alle Zahlungen, die bis zum Jahreswechsel stattgefunden haben, gilt § 64 GmbHG und für alle späteren Zahlungen gilt § 15b InsO.

 

 

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>“§ 15b InsO oder § 64 GmbHG: Bei den Zahlungsverboten nach Eintritt der Insolvenzreife in Altfällen stellt der Gesetzgeber klar, was so klar nicht ist” Fachbeitrag von RA Dälken in juris AZO Insolvenzrecht, Ausgabe 14/2021, S. 3 ff.